Polaris Slingshot (2016): Performance-Dreirad im Test (2024)

1. Februar 2016 um 17:51 Uhr

Stefan Wagner

Von: Stefan Wagner

Da stehe ich also recht verdutzt vor einem Haufen roten Kunststoffs und denke: Kriegen wir Fahrspaß-Junkies jetzt unsere ganz eigene Gender-Debatte? Für ein Auto hat der Polaris Slingshot ein Rad zu wenig, für ein Motorrad ein Rad (und ein Lenkrad) zu viel. Sogar ein Caterham hat – mit sehr viel Wohlwollen – sowas wie Türen und ein Dach. Der Slingshot hat das nicht. Dafür wiegt er 786 Kilo. Die dickste Harley fällt dagegen vom Baum wie ein dünnes Blatt Papier. Was will uns Polaris, das im richtigen Leben erstaunliche Mengen an Schnee-, Offroad- und anderen Spaß-Vehikeln produziert, also mit diesem furchteinflößend dreinschauenden Zwitterwesen sagen? Vielleicht wissen sie das selbst nicht so genau. Ich nehme an, irgendwas mit einigermaßen purem und luftigem Fahrspaß dürfte als Zielstellung durchgehen. Außerdem ist es relativ unmöglich, umzukippen ...

Wie ein Teenie vor dem Kleiderschrank
Verantwortlich dafür ist eine geradezu monströse Spurbreite von 1,76 Meter. Das XXL-Hinterteil eines Porsche 911 Turbo kommt mit 17 (!) Zentimeter weniger Spur aus. Und weil das amerikanische Dreirad insgesamt breiter als ein Lamborghini Huracán, aber deutlich kürzer als ein Mazda MX-5 (oder ein Nissan Micra) ist, ergeben sich hier reichlich "interessante" Proportionen. Neben seiner gigantösen Vorderachse baut der Slingshot in Sachen Stabilität auf einen stählernen Gitterrohrramen, der von einer Polymer-Karosse umspannt wird. Der ganze Rest ist wie ein junges Ding, ein Date und ein Kleiderschrank – er kann sich einfach nicht entscheiden. Vorne gibt es Doppelquerlenker und 18-Zöller, hinten eine Aluschwinge, einen Dämpfer und ein kolossales 20-Zoll-Rad mit beruhigend breitem 255er-Kenda-Sportreifen. Vorne gibt es einen bemerkenswert ordinären 2,4-Liter-GM-Sauger mit Fünfgang-Schaltgetriebe. Hinten gibt es eine Antriebseinheit, die per Antriebswelle mit dem Getriebe und per Carbon-Riemen mit dem angetriebenen Hinterrad verbunden ist. Bis kurz hinter des Fahrers Haupt sieht der Slingshot aus wie eine sehr coole Version von Batmans Badewanne. Dahinter bricht er auf einen Schlag komplett weg und offeriert in etwa den Style-Faktor eines Rollstuhls, der an einen mittelalterlichen Pflug genäht wurde.

Wasser marsch
Slingshots Innenraum offenbart hauptsächlich Plastik oder andere Materialien, die nicht böse sind, wenn man sie mit einem Gartenschlauch abspritzt. Löcher unter den Sitzen und in den Cupholdern (der Amerikaner schätzt seinen übergroßen Kaffee-/Colabecher auch bei orkanartigem Fahrtwind) sorgen dafür, dass er selbst bei einem plötzlich eintretenden Monsun nicht zum Schwimmbad mutiert. Überraschend gut: Das generelle Gefühl von Verarbeitungsqualität und Solidität sowie die sehr komfortablen Gummistühle. Außerdem gibt es ein großes Handschuhfach, zwei Helmfächer und – ja, wirklich – ein 4,3-Zoll-Infotainmentsystem mit Rückfahrkamera und Smartphoneanbindung. Weniger gut: Die "Windschutzscheibe". Menschen unter 1,50 Meter oder über 2,10 Meter werden keine Probleme mit ihr haben. Alle anderen können weder unten durch, noch oben drüber schauen, was oft ziemlich verwirrt. Wer es verschmerzen kann, dass Fliegen, Kieselsteine et cetera nicht nur auf der Stirn, sondern auch in den Zähnen landen, dem sei daher die kleinere Double-Bubble-Scheibe ans Herz gelegt.

Burnouts wie Hellcat
Generelle Skepsis (na gut, es war eine ordentliche Portion Angst) herrschte – zumindest bei meiner gänzlich Zweirad-unerfahrenen Wenigkeit – in Sachen Fahrverhalten. Beides stellte sich zügig als relativ unbegründet heraus. Wer Slingshot an einem kalten Morgen mit kaltem Hinterreifen erstmal wie ein Berserker aus der Einfahrt prügelt, darf sich zwar über ein leicht entfesselbares Rektum nicht wundern, ansonsten fährt sich dieses Dreirad aber nicht anders als jeder andere Sportwagen, dem man zufällig eine riesige Windmaschine auf die Motorhaube gebastelt hat. Vorteil Slingshot: Ellenlange Burnouts, die auch ein Dodge Challenger Hellcat nicht rauchiger hinbekommen würde, sind selbst im zweiten Gang jederzeit machbar.

Wirklich? Der Motor?
Der altgediente Vierzylinder-Sauger (bekannt aus Koryphäen wie dem Pontiac Solstice oder dem Saturn Sky) wäre mit seinen 173 PS und 227 Newtonmeter in einem normalen Sportler vermutlich so aufregend wie Helena Fürst, die in Dauerschleife aus dem Telefonbuch rezitiert. Im letztlich doch recht leichten Slingshot schlägt er sich hingegen ziemlich ordentlich, mit schönem Ansprechverhalten, einer liebevollen Beziehung zu seiner 7.200er-Drehzahlgrenze und einem sehr launigen Schaltgetriebe. Dennoch würde ich mir für einen verrückten Hund wie den Slingshot etwas mehr Theater im Antriebsstrang wünschen. Die 0-100-km/h in 5,9 Sekunden sind wie der gesamte Leistungsaufbau und der Klang total in Ordnung, aber die Nackenhärchen wollen sich nicht so recht aufstellen und auch die obszönen Jubelschreie bleiben weitgehend aus.

Bremse und Lenkung verbesserungswürdig
Weitere Slingshot-Probleme (wo wir gerade so schön dabei sind): Die nicht servounterstütze ABS-Bremse soll sich anfühlen wie bei einem Rennwagen, erinnert aber eher an den Tritt in eine Hüpfburg. Ein bisschen zu wenig Meldung kommt auch von dem ein bisschen zu großen Lenkrad. Womöglich lag es an meinen Test … ähm … "wagen", aber ein kompromissloses und doch eher zweckgebundenes Spaßgerät wie der Slingshot dürfte ruhig ein bisschen zackiger die Richtung wechseln.

Enger, schneller, besser
All das ist weitgehend vergessen, wenn man die längeren, breiteren Kurven gegen schmälere, engere tauscht. Ein standesgemäßer Berg, ein paar kuschelige Serpentinen und der Polaris Slingshot ist komplett in seinem Element. War ich bis vor zwei Minuten noch geneigt zu sagen: "Durchaus nett", würde ich mir nun vor Begeisterung am liebsten meinen "Darth-Vader-fliegt-jetzt-F16"-Helm vom Antlitz reißen. Traktion und Stabilität des umgedrehten Trikes sind irre. Zumindest, wenn man nicht vor der Kurve gleichzeitig bremst, einlenkt und runterschaltet. Dann nämlich wird man im Nu von Slingshots Motorradseite des Stammbaums zusammengestaucht und das Hinterrad wackelt für einen Schreck-Moment wie ein Goldfisch an der frischen Luft. Kurz schlucken und weiter gehts. Untersteuern ist praktisch nicht vorhanden und mit amüsant viel Neigung auf das kurvenäußere Rad fräst man viel zu schnell durch die Kehren. Das alles ist schon reichlich wunderbar, aber der Partytrick des Slingshot ist ein anderer.

Driften? Kinderspiel
Was ich damit meine? Nun, seine Lust, sich möglichst seitwärts zu bewegen, entpuppte sich im Test als geradezu legendär. Was auf einem Zweirad den größten Könnern (oder Menschen mit viel Mut und wenig Schmerzempfinden) vorbehalten bleibt, geht im Slingshot fast wie von selbst. Sogar mit aktivierter Traktions- und Stabilitätskontrolle – beide sind ganz nebenbei vortrefflich abgestimmt – gelingen glorreiche Drifts, die besser zu kontrollieren sind, als nahezu alles, was ich bisher erlebt habe. Wenn man es nach ein paar wenigen Versuchen verinnerlicht hat, surft man förmlich durch die komplette Kurve. Es ist ein anbetungswürdiges Gefühl und ein verdammt starkes Alleinstellungsmerkmal dieses herrlich schrägen Vehikels.

Günstiger als die Spaß-Konkurrenz
Am Ende des Tages löst der Slingshot sein Fahrspaß-Versprechen also wirklich ein. Er geht nicht so hanebüchen vorwärts und raubt einem nicht gar so sehr den Atem wie ein Ariel Atom oder die stärker motorisierten Caterhams, aber mit 29.990 Euro kostet er auch nur einen Bruchteil. Und er ist deutlich komfortabler abgestimmt. Man kriegt bei ihm also ziemlich viel Purismus, ziemlich viel Straßenkontakt, ziemlich viel Luft, ziemlich viel Irrsinn und erstaunlich gute Manieren für ziemlich akzeptables Geld. Ein schönes Spielzeug, das mit ein paar PS mehr und etwas Feintuning bei Fahrwerk und Lenkung noch süchtiger machen würde. Ach ja, der Slingshot ist in Deutschland mit Autoführerschein zu bewegen. Es gibt ein paar ziemlich unlogische Ausnahmen, die der entsprechende Polaris-Händler sicher gerne erläutert. Die von Polaris hierzulande angestrebten 200 Exemplare pro Jahr dürften dennoch ihre Käufer finden. Vorausgesetzt diese haben ein Faible für Rot, denn eine andere Farbe gibt es nicht. Erstaunlich wenig Entscheidungsfreiheit für ein Gefährt, das sich partout nicht entscheiden kann ...

Wertung

  • ★★★★★★★★★☆

  • Na gut, das Profil ist wirklich speziell. Aber wer luftig-launiges Motorrad-Feeling mit dem Zusatzkomfort (und der Zusatzsicherheit) eines Sportwagens sucht, dürfte mit dem Polaris Slingshot ziemlich glücklich werden. Wäre das Ami-Dreirad etwas spitzer eingestellt und hätte etwas mehr Leistung würde aus einem sehr gelungenen Fahrerlebnis ein absolut atemberaubendes werden. Richtig viel Spaß macht der Slingshot trotzdem. Und der Preis wirkt fair.

    + verrücktes, uriges, luftiges Fahrgefühl; hohe Kurvendynamik; solide Verarbeitung; guter Komfort

    - könnte noch radikaler sein; Bremse ist gewöhnungsbedürftig

  • Antrieb
    85%
  • Fahrwerk
    95%
  • Karosserie
    85%
  • Kosten
    90%

Datenblatt

Motor und Antrieb
Motorart Reihenmotor
Zylinder 4
Ventile 4
Hubraum in ccm 2.384
Leistung in PS 175
Leistung in kW 129
bei U/min 4.700
Drehmoment in Nm 227
Antrieb Hinterradantrieb
Gänge 5
Getriebe Schaltgetriebe
Fahrwerk
Spurweite vorn in mm 1.755
Radaufhängung vorn Doppelquerlenker
Radaufhängung hinten Aluminiumschwinge
Bremsen vorn Scheiben, innenbelüftet, 298 Millimeter
Bremsen hinten Scheibe, innenbelüftet, 298 Millimeter
Räder, Reifen vorn 225/45 R18
Räder, Reifen hinten 255/35 R20
Lenkung elektromechanische Servolenkung
Maße und Gewichte
Länge in mm 3.800
Breite in mm 1.971
Höhe in mm 1.318
Radstand in mm 2.667
Leergewicht in kg 786
Tankinhalt in Liter 37
Kraftstoffart Normal
Fahrleistungen / Verbrauch
Höchstgeschwindigkeit in km/h ca. 190
Beschleunigung 0-100 km/h in Sekunden 5,9
EG-Gesamtverbrauch in Liter/100 km k.A.
CO2-Emission in g/km k.A.

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